Geschichte des charismatischen Aufbruchs

In den späten 90er Jahren des 19. Jahrhunderts schrieb Elena Guerra, eine mutige italienische Ordensschwester, entgegen dem Rat ihrer Freunde einen Brief an den Papst. Sie machte den Vorschlag, in der katholischen Kir­che weltweit eine Novene zum Heiligen Geist (ein neuntägiges Gebet zwi­schen Christi Himmelfahrt und Pfingsten, vgl. Apg 1, 12-14) beten zu lassen.

Der Papst las den Brief nicht nur, sondern verfaßte im Jahr 1897 eine Enzy­klika mit dem Titel „Über den Heiligen Geist". In dieser Enzyklika empfahl er das Gebet der Novene und rief zu einer neuen Wertschätzung des Heili­gen Geistes und seiner Gaben auf. Diese Enzyklika rückte den Heiligen Geist wieder neu in das Blickfeld der Theologen und Gläubigen in der katholi­schen Kirche. Mit dieser unscheinbaren Geschichte begann ein Jahrhundert, dessen Kirchengeschichte (und nicht nur die katholische) stark vom Wirken dieses Geistes beeinflußt werden sollte. Ein Teil davon ist die pfingstlich-charismatische Erneuerung, zu der sich im Jahr 1990 bereits fast jeder vierte Christ (23,3 %) zählte. Ein kurzer Blick auf wichtige Stationen in der Ge­schichte dieses Aufbruchs kann helfen, das Wirken Gottes in diesem Jahr­hundert zu erkennen und ernst zu nehmen.

 

Start am ersten Tag dieses Jahrhunderts

 

Die erste Ausgießung des Heiligen Geistes in diesem Jahrhundert, wie wir sie aus dem Pfingstbericht der Apostelgeschichte kennen, geschah in Topeka (Kansas/USA). Eine Gruppe Bibelschüler in Charles Parham's Be­thel Bibleschool schloß aus der Bibel, daß Sprachengebet das biblische Zei­chen für die Taufe im Heiligen Geist sei. So trafen sie sich Ende des Jahres 1900 zu einem Wochenende. Beim gemeinsamen Abendgebet bat die 18jährige Agnes Ozman ihre Lehrer und Mitschüler, ihr die Hände aufzu­legen, wie es in der Apostelge­schichte erwähnt wird, und für sie um die Erfüllung mit dem Heiligen Geist zu beten. Bei diesem Gebet be­gann sie spontan in Sprachen zu re­den.

Das geschah am 1. Januar 1901, dem ersten Tag des 20. Jahrhunderts. Ungefähr 115 Personen waren bei diesem Wochenende anwesend, und die meisten machten in den näch­sten Tagen ebenfalls diese Erfah­rung. Daraufhin reisten Charles Par­ham und diese Bibelschüler fünf Jahre lang durch den Südwesten der USA und verbreiteten ihre Bewe­gung, die sie „Apostolic Faith" (Apostolischer Glaube) nannten. 1905 hatte diese neue Kirche bereits rund 25000 Mitglieder. In jenem Jahr besuchte auch William J. Seymour Parhams Bibelschule. Dieser unbe­kannte schwarze Pastor übernahm 1906 eine Gemeinde in Los Angeles. Es war die Gemeinde in der „Azusa­Street", die bald große Berühmtheit erlangen sollte.

 

Azusa-Street-Erweckung

 

„Pfingsten ist gekommen." Diese Botschaft breitete sich 1906 von ei­ner kleinen, wackeligen Kapelle aus. Die Kirche in der „Azusa-Street", im Armenviertel von Los Angeles, war von den Methodisten erbaut, dann aber zu einem Lagerhaus gemacht worden. W. J. Seymour hatte die Kir­che für eine kleine schwarze Ge­meinde wieder eröffnet, die sich seit dem Frühjahr 1905 regelmäßig zum Gebet für Erweckung versammelte. Ein Jahr später — im Frühjahr 1906 —begann eine Erweckung wie selten zuvor. Im Unterschied zu vielen frü­heren (wie zum Beispiel der Erwec­kung in Wales wenige Jahre zuvor) war sie vor allem durch das Auftre­ten der Geistesgaben — besonders Sprachengebet, Prophetie und Hei­lung — und spontanen Lobpreis ge­kennzeichnet. Gemeindewachstum und Bekehrungen waren die Folge. Die Kunde von dieser Erweckung breitete sich rasch aus. Bereits im Sep­tember desselben Jahres kamen Pastoren, Missionare und andere Be­sucher von nah und fern, um das Wir­ken Gottes dort mitzuerleben und von dort aus weiterzutragen. 1908 hatte die Botschaft aus der Azusa­ Street jede größere Stadt in den Ver­einigten Staaten erreicht und sich in vielen anderen Ländern ausgebrei­tet

Diese Pfingstbewegung ergriff weltweit vor allem Christen aus der Heiligungsbewegung — einer klei­nen Konfession, die aus den metho­distischen Gemeinden hervorgegan­gen war — aber auch evangelikale, in England auch anglikanische Chri­sten. In Deutschland wurde die Be­wegung 1909 in der sogenannten „Berliner Erklärung", die von eini­gen protestantischen Theologen und Pastoren verfaßt wurde, zurück­gewiesen. Hier wirke der „Geist von unten", war ihr Hauptvorwurf. Auch in anderen Ländern wurden Chri­sten, die diese Erfahrung gemacht hatten, aus ihren Kirchen ausge­schlossen.

Als Reaktion auf diese und andere zurückweisende Maßnahmen bilde­ten sich bis Mitte der 20er Jahre die auch heute noch bedeutenden Pfingstkirchen, wie die „American Assemblies of God" oder die „British Assemblies of God". So blieb die Er­fahrung eines neuen Lebens durch die Taufe im Heiligen Geist haupt­-sächlich auf diese neuen Kirchen und Gemeinden beschränkt. Die Pfingst­kirchen wurden zu den Kirchen mit dem weltweit schnellsten Wachstum und bilden heute die bei weitem größte Gruppe unter den protestan­tischen Kirchen. Die Großkirchen al­lerdings blieben dieser Bewegung gegenüber vorerst größtenteils ver­schlossen.

 

Pfingsten für die Großkirchen

 

Das änderte sich erst im Laufe zweier Jahrzehnte. Unter dem Ein­fluß verschiedener pfingstlicher Hei­lungsevangelisten, wie William Bran­ham, Oral Roberts oder T. L. Osborne in den späten 40er Jahren, empfin­gen viele Mitglieder großer, haupt­sächlich protestantischer Konfessio­nen die Taufe im Heiligen Geist. Dies geschah oftmals, ohne daß sie ihre Kirche verließen. Eine andere wich­tige Entwicklung, die das Entstehen einer charismatischen Erneuerung in den Großkirchen vorbereitete, war die Gründung der Vereinigung der „Geschäftsleute des vollen Evange­liums" 1951 durch Demos Shakarian. Ihr Ziel ist es, geisterfüllte Geschäfts­leute aus allen Konfessionen zusam­menzuführen, um gemeinsam das Evangelium zu verkünden und von ihrer Pfingsterfahrung Zeugnis zu geben.

Entscheidend wurde der Boden für eine weitere Verbreitung dieser Erfahrung durch David du Plessis be­reitet. Du Plessis hatte 1936 in einem prophetischen Wort in Südafrika ge­hört, daß Gott seinen Geist auch auf Mitglieder der historischen Kirchen ausgießen und er selbst dabei eine wichtige Rolle spielen werde. Das war 1936 eine revolutionäre Vorstel­lung. Viele Pfingstler hatten in der er­sten Hälfte des Jahrhunderts ihre an­gestammten Kirchen wegen ihrer Geist-Erfahrungen verlassen müssen.

Durch die vielen Kontakte, die Du Plessis während der 50er Jahre mit Verantwortlichen in den verschie­densten Kirchen knüpfte- er war un­ter anderem als Vertreter der Pfingst­kirchen beim Zweiten Vatikanischen Konzil -, zerbrach die Exklusivität der pfingstlichen Welt. Ende der 50er Jahre empfingen viele Pastoren und Leiter die Taufe im Heiligen Geist und das, ohne ihre Kirche zu verlas­sen. In der amerikanischen Episko­palkirche ist besonders Dennis Ben­net zu nennen, für die lutherische Kirche in den USA Larry Christenson und für die Presbyterianische Kirche Robert Whitaker. Wichtige Mittel in der Verbreitung dieser Erfahrung waren Bücher wie David Wilkersons „Das Kreuz und die Messerhelden" (1963) oder „Und sie sprechen in an­deren Zungen" von John Sherill (1964).

 

Charismatische Erneuerung in der katholischen Kirche

 

Im Jahre 1967 erreichte die Ge­schichte der Pfingstereignisse in die­sem Jahrhundert für viele einen der überraschendsten Punkte: Katholi­ken wurden mit dem Heiligen Geist getauft. Am Freitagabend, den 17. Fe­bruar 1967, begann für etwa 30 Pro­fessoren und Studenten der „Du­quesne University" in Pittsburgh (US-Staat Pennsylvania) ein Einkehrwo­chenende, bei dem die ersten beiden Kapitel der Apostelgeschichte und David Wilkersons Buch „Das Kreuz und die Messerhelden" gelesen wer­den sollten. Geleitet wurde das Wo­chenende von zwei Professoren der Universität, die bereits Treffen von Pfingstfern besucht hatten und sich nach einer geistlichen Erneuerung sehnten.

Am Samstag sprach Betty Shuma­ker, ein charismatisches Mitglied der Episkopalkirche, über das zweite Ka­pitel der Apostelgeschichte. Sie sprach nur 15 Minuten lang, und ihr Kommentar zu dieser Stelle war: „Das geschieht auch noch heute!" Diese simple Aussage erschien vielen zu einfach.

 

 

Für den Abend war eine Geburts­tagsfeier geplant. Doch obwohl im unteren Speisesaal alles für das Fest vorbereitet war, schien niemand an der Feier Interesse zu haben. Als Patti Gallagher (heute Patti Mansfield) nach oben ging, um die anderen Stu­denten zum Fest zusammenzurufen, stolperte sie in die Kapelle und wurde plötzlich so von der Gegen­wart Gottes überwältigt, daß sie zu zittern begann und unter der Kraft Gottes zu Boden fiel. „Ich wurde vom Erbarmen und der Liebe Gottes überflutet", sagte sie später.

Schließlich kam einer nach dem an­deren in die Kapelle, um zu beten. Frau Gallagher beschreibt das Tref­fen in diesem „Obergemach" so: „In dieser Nacht brachte der Herr die ganze Gruppe in die Kapelle ... Die Professoren legten manchen von den Studenten die Hände auf, aber die meisten empfingen die Taufe im Heiligen Geist, während sie vor dem Allerheiligsten knieten. Manche von uns begannen in Sprachen zu beten; andere empfingen die Gaben der Unterscheidung, der Prophetie und der Weisheit."

 

Ein Chance für die Kirche und die Welt

 

Die katholische Erneuerung zeichnete aus, daß sie nicht antiintellektuell war, da sie im Umfeld derUniversität begann. Zweitens, daß sie unter jungen Laien begann. Drittens daß ihre ersten Leiter schon zuvor bei verschiedenen Aktivitäten (z. B. Cursillo) zusammengearbeitet hatten. Das trug dazu bei, der katholischen Erneuerung ein einheitliches Erscheinungsbild zu geben, was zu­vor in der protestantischen Erneue­rung nicht gelungen war. Und schließlich waren diese Katholiken stark von dem wenige Jahre zuvor zu Ende gegangenen Zweiten Vatikani­schen Konzil geprägt. Viele sahen in diesem Aufbruch eine Antwort auf das Gebet von Papst Johannes XXIII. um ein neues Pfingsten.

Die amerikanischen Bischöfe be­zeichneten schon 1969 in einer er­sten Stellungnahme die Erneuerung als eine „Bewegung, der erlaubt wer­den sollte, sich zu entwickeln". 1975, beim ersten Weltkongreß der katho­lischen Erneuerung in Rom nannte schließlich Papst Paul VI. die Erneue­rung „eine Chance für die Kirche und die Welt."

Von Anfang an wurde Wert auf Lehre und Leiterschaft gelegt. Es ent­stand die „Word of God Commu­nity" (Wort Gottes Gemeinschaft) in Ann Arbor, die zum Vorbild für viele andere Gemeinschaften auf der gan­zen Welt wurde. Durch das in Ann Ar­bor entwickelte „Leben im Geist"-Se­minar wurde die Erfahrung der Taufe im Heiligen Geist immer weiter ver­breitet. Das Gebetstreffen der Ge­meinschaft wurde zum Modell für hunderte ähnlicher Gebetstreffen im ganzen Land.

 

Außergewöhnliches Wachstum in allen Konfessionen

 

Ebenfalls beispielhaft wirkte 1970 die Gründung eines „National Ser­vice Council" (Nationaler Rat zum Dienst an der Erneuerung), der bald ähnlichen Organisationen in ande­ren Kirchen und anderen Ländern als Beispiel diente.

Gleichzeitig fanden jeweils im Frühjahr in South Bend (US-Staat In­diana) jährliche Konferenzen der Ka­tholischen Charismatischen Erneue­rung statt. Zur ersten nationalen Konferenz kamen im April 1967 lediglich 85 Dauerteilnehmer, 1971 waren es 5000, darunter 3 Bischöfe und            230 Priester, und 1973 war die Teil nehmerzahl schon auf 20000 angewachsen .

 

Diese Entwicklung blieb nicht auf die USA beschränkt. In den 70er Jahren breitete sich die Erneuerung in den Kirchen Europas aus.

 

Nach einer Übersicht des amerika­nischen Statistikers David Barrett ha­ben sich 1990 etwa 372 Millionen Christen zu diesem pfingstlich-charis­matischen Aufbruch gezählt, darun­ter mehr als 72 Millionen Katholiken. Im Jahr 2000 werden diese beiden Zahlen — wenn die Entwicklung so weitergeht — 562 Millionen bzw. 110 Millionen überschritten haben. In den Vereinigten Staaten bezeichnen sich bereits ein Viertel aller haupt­amtlichen kirchlichen Mitarbeiter Pfingstler oder Charismatiker.

Diesem außergewöhnlichen Wachs­tum steht die Durchdringung fast al­ler konfessionellen Traditionen ge­genüber — von der orthodoxen, über die katholische, anglikanische, luthe­rische und reformierte Kirche bis hin zu den verschiedenen Freikirchen und unabhängigen Gemeinden. 75 Prozent aller messianischen Juden. (Juden, die Jesus als ihren Erlöser an­erkennen und ihrer jüdischen Tradi­tion treu bleiben) sind Charismatiker.

Selten hat eine gemeinsame Erfah­rung so viele verschiedene Christen erreicht. Dahinter steht das Handeln Gottes, der seinen Geist ausgießt, auf wen er will. Wie werden wir wei­terhin mit diesem Geschenk Gottes umgehen? Für die Zukunft wird ent­scheidend sein, inwiefern wir der Gnade der Erneuerung treu bleiben und dem Heiligen Geist weiterhin Raum geben.

 

Tobias Gerster

 

 

Entnommen dem Sonderheft des "C-Magazin", das aus Anlass der 25 Jahre Charismatische Erneuerung in der Katholischen Kirche erschienen ist.